Modernde Zeiten. Ein Essay über die Unzufriedenheit und ihre Feinde

Dezember 31, 2023 3 Kommentare

There is a war between the ones who say there is a war
And the ones who say there isn’t

(Leonhard Cohen)

1.

Wo er sich zu Tisch setzt
Setzt sich die Unzufriedenheit zu Tisch

Brecht, Lob des Revolutionärs

Die Unzufriedenheit mag eine notwendige Erscheinung des Alters sein, in der man als Mensch Stück für Stück aus der aktuellen Wirklichkeit verschwindet. Vielleicht ist sie auch Ausdruck einer Persönlichkeitsstörung, die sich immer mehr Raum im psychischen Apparat verschafft. Wer unzufrieden ist, steht immer schon in der Ecke. Wer sich beklagt hat ein psychisches Problem. Wer mit den Umständen nicht zufrieden ist, ist vor allem mit sich selbst unzufrieden. Die Selbst-Pathologisierung der eigenen Konflikte ist mittlerweile Teil der herrschenden Ideologie. Die Unzufriedenheit auf eine rein persönliche Seelenlage zu reduzieren ist bereits Konsequenz ihrer Denunziation durch den Apparat. Meine persönliche Unzufriedenheit kommt daher, dass die Gesellschaft, die wir wahrnehmen, in einer ganz fundamentalen Krise steckt, was einerseits den spirituellen Leerstellen durch dysfunktionale Sinngebungsinstitutionen geschuldet ist, aber andererseits ganz handfeste Ursachen in den Veränderungen der demokratischen Legitimität hat, die im Zuge der europäischen Integration die innere Statik der Nationalstaaten ins Ungleichgewicht brachten. Die Auswirkungen sind Krisen des Zusammenhalts, der Verlust von Konsens, die Unterdrückung von Kritik. Die Krise besteht in der Unfähigkeit von Eliten, auf die Kritik ihrer Politik anders zu reagieren als durch die soziale Ausgrenzung der Kritiker. The time is out of joint.

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Kategorien:Culture and War

Wären Marx und Engels heute Anti-Imperialisten oder Anti-Deutsche? Überlegungen zu einer unentschiedenen Frage.

Dieser Beitrag ist ursprünglich im Dezember 2017 auf dem Blog thinktankboy erschienen. Die vorliegende Fassung wurde leicht verändert.

1.

Der folgende Text ist das Ergebnis einer sich schon länger hinziehenden Reflexion, wie sich Karl Marx und Friedrich Engels wohl heute in Fragen der globalen Verhältnisse politisch positionieren würden. Die Aufgabe besteht hauptsächlich darin, sich diesem Problem auf eine Weise zu stellen ohne schon zuvor eine Entscheidung darüber getroffen zu haben. Wären Marx und Engels heute eher altbackene linksgrüne Salonkommunisten oder würden sie es eher mit Adorno und der Kritischen Theorie halten?

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Vorschläge für die Literatur des 21. Jahrhunderts

 

 

quotiens certam me sum mentitus habere

horam, propositae quae foret apta viae.

ter limen tetigi, ter sum revocatus, et ipse

indulgens animo pes mihi tardus erat.

 

Wie oft bildete ich mir ein, es gebe eine bestimmte Stunde,

die für die bevorstehende Reise geeignet wäre.

Dreimal berührte ich die Schwelle, dreimal wurde ich zurückgerufen,

und der Fuß lahmte, da ich dem Geist nachgab.[1]

 

Ovid, Tristia 1,3

 

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Kategorien:Culture and War

Über Superintelligenz und das AI Risiko

„lupus est homo homini.“ (Plautus)

Der Begriff der “Künstlichen Intelligenz” (engl. artificial intelligence oder AI) ist philosophisch höchst umstritten, aber technisch durchaus definierbar. Obwohl es natürlich keine eindeutige Auffassung von „Intelligenz“ gibt, hat sich in den Ingenieurdisziplinen durchgesetzt, dass mit Intelligenz die Fähigkeit gemeint ist Muster in chaotischen Datenmengen zu erkennen. Dabei genügt es aus evolutionärer Sicht für jedes Wesen, das einem Selektionsdruck unterliegt, die für das Überleben notwendigen Muster richtig zu interpretieren, unabhängig von messbarer Intelligenz. Eine Katze muss schnell sein, um Mäuse zu fangen, aber sie muss keine Differentialgleichungen lösen. Hohe Intelligenz wäre in der Lage dort Muster zu erkennen, wo andere scheitern und eine Superintelligenz würde riesige Cluster an Mustern erkennen und in hoher Geschwindigkeit verarbeiten. Dabei sollte immer im Hinterkopf behalten werden, dass eine solche Superintelligenz dies nur unter hohem Energieaufwand betreiben kann, der mit der Größe der Superintelligenz selbst wächst.

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Kategorien:Allgemein

The Climb We Hill

„Don’t believe the hype!“ (Public Enemy)

Amanda Gorman oder Die Kunst einen Hügel hinauf zu steigen, der vollkommen flach ist.

1.

Seit die junge Poetin Amanda Gorman ihr Gedicht „The hill we climb“ bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden einem Millionenpublikum vorlas, kann sie vermutlich als die berühmteste Autorin der Welt gelten. Mehrere Millionen Follower auf Twitter, lukrative Verträge mit prominenten Verlagen, die Stilisierung zur Fashion-Ikone und eine weltweite Aufmerksamkeit in den Feuilleton Seiten der wichtigsten Zeitungen und Magazine sind der Lohn für einen knapp sechs Minuten langen Vortrag von 53 Zeilen.

Große Verlage außerhalb der Vereinigten Staaten bemühten sich sofort um die Übersetzungsrechte für den schmalen Text und setzten ihre besten Leute darauf an. In den Niederlanden wurde die Transperson Marieke Lucas Rijneveld mit der Übertragung betraut, aber ihr wurde der Auftrag kurz darauf wieder entzogen, weil ein Twittermob entschied, dass die Hautfarbe von Rijneveld einfach zu hell ist. Dasselbe Schicksal ereilte den katalanischen Übersetzer von Gormans Gedicht, Victor Obiois, einem prominenten Shakespeare Experten, dem von seinem Verlag mitgeteilt wurde, das „falsche Profil“ zu haben.

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Kategorien:Culture and War

Writings on the wall. Reflexionen zum Terroranschlag in Wien

November 8, 2020 5 Kommentare

 

“You can’t depend on the goodly hearted
The goodly hearted are made lamp-shades and soap…”

Lou Reed, Busload of Faith

 

In seinem auf MEMRI veröffentlichten Bekennervideo fuchtelt der junge Mann mit seiner Handfeuerwaffe in der rechten Hand ein wenig herum, während er mit der Linken eine Machete und den Lauf der AK-47 eng an sich drückt. Er murmelt in schlechtem Arabisch die traditionellen Formeln des islamischen Glaubensbekenntnisses herunter und schwört dem derzeitigen Anführer der Terrorbande „Islamischer Staat“ (Daesh) seine Gefolgschaft. Wenig später wird er in der Wiener Innenstadt fünf Menschen mit Schüssen aus seiner AK-47 ermorden, um wenig später selbst durch die Waffe eines Polizisten tödlich getroffen zu werden.

Der Täter, ein 20-jähriger Mann und österreichischer Staatsbürger, der ursprünglich aus dem albanisch sprechenden Teil Nordmazedoniens stammt, ist behördlich bekannt gewesen, hat bereits eine Haftstrafe verbüßt, weil er versucht hat, sich in Syrien dem IS anzuschließen und wurde sogar von slowakischen Behörden dabei erwischt, wie er sich Munition für die AK-47 verschaffen wollte. Die österreichischen Autoritäten sollen die Warnung der Slowaken mehr oder weniger ignoriert haben. Anscheinend hatte man volles Vertrauen in das Deradikalisierungsprogramm[1], das den jungen Mann unter seine Fittiche genommen hatte und durch das er die 22 Monate lange Haftstrafe auf einen 7-monatigen Aufenthalt im Gefängnis reduzieren konnte.

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Kategorien:Culture and War

Nicht-Identitätspolitik. Ein Aufruf zum Widerstand gegen die linke Hegemonie

Juli 23, 2020 53 Kommentare

Do I understand your question, man, is it hopeless and forlorn?

Bob Dylan, Shelter from the storm

Hier ist nicht Jude noch Grieche,
Hier ist nicht Sklave noch Freier,
Hier ist nicht Mann noch Frau;
Denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.

Galater 3,28

Intro: Ist #blacklivesmatter ein Produkt der Kritischen Theorie?

„What we’re trying to do in this revolution, in this televised revolution is that I’m saying this not in the literal sense, but in the sense of ‘Burn it all down. Start over.‘

(Linda Sarsour)[1]

Die jüngsten Ereignisse in den Vereinigten Staaten lassen uns zwischen den revolutionsschwangeren Rauchschwaden verwüsteter Innenstädte einen Blick darauf werfen was passieren könnte, wenn die bürgerliche Gesellschaft, ihre Demokratie und die von ihr rechtsstaatlich garantierte Meinungsfreiheit scheitern sollten. Was seit Jahrzehnten als „humanities“ an europäischen Universitäten und den Colleges der amerikanischen Bildungseliten gelehrt wird, ein philosophisch und ideologisch dezentral geführter Totalangriff poststrukturalistisch beeinflusster Theorien von „critical whiteness“ über „postcolonial theory“ bis zu „gender studies“ auf die Substanz der jüdisch-christlichen Zivilisation, steht kurz davor sich gesamtgesellschaftlich durchzusetzen. Der von den Eliteuniversitäten ausgehende und von den Mainstream Medien und den großen Tech-Corporations unterstützte Aufstand gegen eine imaginäre „white supremacy“, die einen „systemischen Rassismus“ praktizieren soll, ist ein postmodern aufgeladener stalinistischer Krieg gegen die zivilisatorischen Minimalanforderungen bürgerlicher Gesellschaft. Er könnte erfolgreich sein. Die Angst vor einem Untergang der Vereinigten Staaten wirft eine scheinbar weniger wichtige aber deswegen nicht weniger brisante Frage auf. Wenn man die Aufforderung von Adorno und Horkheimer ernst nimmt, dass es unerlässlich sei die zivilisatorischen Mindeststandards bürgerlicher Gesellschaft gegen die Barbarei zu verteidigen, dann stellt sich die Frage, ob mit der möglichen Abdankung der spätkapitalistischen Demokratie, deren Kritik stets auch ihr eigenes Anliegen gewesen ist, nicht auch Kritische Theorie an sich als gescheitert betrachtet werden muss.
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Kategorien:Culture and War

Anmerkungen zur weltweiten Verfolgung der Christen

April 23, 2020 2 Kommentare

„Das Abendland wird gestorben sein, wenn es nicht mehr die Gegenwart Griechenlands in einer christlichen Seele ist.“ (Nicólas Gómez Dávila)[1]

„Vielmehr, wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ (Römer 12, 20-21)

1.

Warum wird die weltweite Verfolgung der Christen in den Metropolen des Westens so konsequent ignoriert? Der Widerstand sich mit dem Thema zu beschäftigen ist enorm und verweist auf die ganz prinzipielle Unfähigkeit der zeitgenössischen westlichen Bevölkerungen sich in irgendeiner Weise positiv auf sich selbst zu beziehen. Die These von Freud, dass der Antisemitismus eine absurde Verdrängung des Hasses auf das Christentum ist, erweist sich heute als Wahrheit über die nur verschämt geschwiegen werden kann. Die Ablehnung und der Hass auf die Religion, der von unaufgeklärten Gegenaufklärern gegen jede Empirie als Wesen der Aufklärung propagiert wird, betrifft nur eine einzige Religion und wird von einer linken Hegemonie im Gewand eines postliberalen Atheismus nur gegen das Christentum in Stellung gebracht. Dass es ohne das Christentum gar keine Aufklärung gegeben hätte wird konsequent geleugnet, und dadurch zu einer Art Grundbedingung des gesellschaftlichen Konsenses hypostasiert, in der sich die atheistische Menschenfeindlichkeit gemütlich einrichten kann. Die Verteidigung verfolgter Christen gegen ihre Verfolger wird heute von der linken Hegemonie so intensiv verdrängt, dass sich nur noch politische Reaktionäre mit diesem Thema beschäftigen wollen.[2] Jordan Peterson rief in seinen „12 rules for life“ eine fast schon banale Tatsache zurück in das Bewusstsein von Millionen LeserInnen und ZuhörerInnen seiner Vorträge:  „The Bible is, for better or worse, the foundational document of Western civilization…“[3] und wurde – auch dafür – von Slovoj Zizek als „alt-right scientist“ denunziert.

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Kategorien:Common Interest

Mission Impossible: Fratzen des intersektionalistischen Antisemitismus

Auf der „Mission Impossible“ des geschätzten Kollegen thinktankboy ist gerade mein Text über das Buch „Israel Denial“ von Cary Nelson erschienen.

Fratzen des intersektionalistischen Antisemitismus. Über Cary Nelson’s „Israel Denial“ (2019)

Anmerkungen und Blogposts sind eher dort anzubringen. Viel Vergnügen!

 

Kategorien:Allgemein

Die 10 reaktionärsten Popsongs

März 1, 2020 2 Kommentare

Doch was immer man von Pop sagen und denken mag, bleibt eines niemandem verborgen, selbst wenn es sich schwer in Begriffe fassen lässt: Etwas verändert sich, was weit über die zyklischen Veränderungen, die dynamischsten Crossovers, die unentwegten Verbindungen mit politischen und ökonomischen und technologischen Impulsen hinausgeht.

Georg Seeßlen

In seinem legendären Text „Die Sonnenbrille der Philosophie“ aus dem Jahre 2006 fasst Georg Seeßlen einige seiner grundlegenden Gedanken zum Charakter der Popkultur in dem Satz zusammen: „Pop ist nicht Code, sondern die Veränderung von Codes; nicht Form, sondern die Veränderung von Form. Weil jede konsequente Bewegung zur Selbstaufhebung führt und das Repertoire von Veränderungen limitiert ist, tendiert diese Bewegung dazu, sich kreis- oder spiralförmig zu gestalten.“ Die vielfältigen paradoxen Implikationen dieses einen Satzes (und Seeßlen bemüht sich nach Kräften eine Menge weiterer solcher Sätze zu produzieren) führen dazu, dass sich der Gegenstand Pop jeder Kulturkritik recht umstandslos entledigt. Was Seeßlen die „konsequente Bewegung zur Selbstaufhebung“ nennt, bezieht sich weniger auf Pop als kulturelles Phänomen selbst, sondern viel mehr auf seine journalistische, oder wenn man möchte „kritische“ Aufbereitung für das Publikum. Popjournalismus oder Popkritik ist selbst Pop und nicht Journalismus oder Kritik. Die „Bewegung zur Selbstaufhebung“ führt dazu, dass Pop sehr viel Müll produziert, physisch, psychologisch wie ästhetisch, weil das Telos, das im Hegel’schen Begriff der Aufhebung steckt, also Kunst mit einer Bestimmung zu versehen, die es zum Kunstwerk macht, für die Bewegung selbst aufgegeben wird. Popkultur produziert Kunst und große Kunstwerke, aber nicht weil es das Ziel der Aufhebung ist, sondern als Abfallprodukt der Bewegung an sich, die ständig dazu tendiert sich selbst in Schleifen zu wiederholen. Wenn die Wiederholung zum Telos wird, ist die einzige begriffliche Kategorie Differenz, gedacht als Diversity und Vielheit. Die Differenz ersetzt das Subjekt und die Vielheit das Individuum und bildet so den Spannungsraum der popkulturellen Ästhetik, in der Geschichte nur als Unbewusstes existieren kann.

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Kategorien:Culture and War