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Wären Marx und Engels heute Anti-Imperialisten oder Anti-Deutsche? Überlegungen zu einer unentschiedenen Frage.

Dieser Beitrag ist ursprünglich im Dezember 2017 auf dem Blog thinktankboy erschienen. Die vorliegende Fassung wurde leicht verändert.

1.

Der folgende Text ist das Ergebnis einer sich schon länger hinziehenden Reflexion, wie sich Karl Marx und Friedrich Engels wohl heute in Fragen der globalen Verhältnisse politisch positionieren würden. Die Aufgabe besteht hauptsächlich darin, sich diesem Problem auf eine Weise zu stellen ohne schon zuvor eine Entscheidung darüber getroffen zu haben. Wären Marx und Engels heute eher altbackene linksgrüne Salonkommunisten oder würden sie es eher mit Adorno und der Kritischen Theorie halten?

Es gibt für beide Varianten gute verlässliche Gründe im Werk von Marx und Engels selbst. Es wäre jede Variante denkbar in der sich beide auf derselben oder jeder einzeln auf verschiedenen Seiten gegenüber stehen würden. Die zum Teil völlig sinnentleerten Streitereien über das Erbe von Marx und Engels und wie beide für ganz unterschiedliche Zwecke instrumentalisiert werden können ist jedoch für diesen Beitrag von sehr geringem Interesse. Das Ziel der Frage ob Marx und Engels heute Anti-Imperialisten oder Anti-Deutsche wären ist vor allem Klarheit darüber zu bekommen wie lückenhaft und brüchig die philosophische und hermeneutische Struktur des Marxismus ganz insgesamt ist. Was uns Marx und Engels hinterließen war kein geschlossenes Werk und schon gar keine ausformulierte Theorie des Wissenschaftlichen Sozialismus, sondern eine höchst anspruchsvolle Textlandschaft voller innerer Spannungen und Leerstellen, die zahllose Fäden beinhalten die ins Nirgendwo führen. Marx und Engels waren als Schriftsteller, Journalisten und Philosophen vor allem Intellektuelle mit politischer Ambition. Weil sie keiner Partei angehörten und die etablierten politischen Kräfte ihrer Zeit ablehnten, schufen sie sich ihre eigene. Der Traum von der Revolution war für beide eine simple technische Angelegenheit, bei der es um die Macht im Staate ging und das revolutionäre Proletariat die Gesellschaft allein deshalb zu einer besseren machen würde, eben weil es den Griff nach der Staatsmacht erfolgreich hinter sich gebracht hatte. Die Welt in der Marx und Engels lebten war eine, die von hochgradig ausdifferenzierten sozialen Konflikten beherrscht wurde. Trennungen in Klassen, Stände und aristokratische Hierarchien waren allgegenwärtig normal, aber eben auch allgegenwärtig umkämpft. Es war eine Welt am Anfang, eine Welt in Geburtswehen, die wie Marx schrieb erst entstehen kann, wenn die alte verschwunden ist. Das Ergebnis dieser Geburt ist unsere Welt, heute. Der größte Teil dessen, was Marx und Engels sahen und niederschrieben und was heute in den MEGA Ausgaben besser zugänglich ist waren Kommentare, Analysen und Beschreibungen ihrer eigenen politischen Gegenwart. Sie lasen Zeitungen, Lehrbücher, Depeschen, Reiseberichte, eben Quellen und Dokumente aller Art, verglichen sie untereinander und zogen Schlussfolgerungen für ihre eigenen Kämpfe und die vieler anderer. Marx und Engels waren keine Autoren einer sozialistischen Zukunft, sondern die Beobachter des Hier und Jetzt, wie es sich ihnen darstellte. Die damit einhergehende Brüchigkeit und Inkonsistenz ihres Werkes ist keine Schwäche, sondern reflektiert die Begrenztheit zweier hochintelligenter Individuen eine universalistische Ganzheit im Auge behalten zu können und die unendliche Fülle der Details nicht außer Acht zu lassen.

Foucault hatte völlig recht damit, als er schrieb: „Der Marxismus ruht im Denken des neunzehnten Jahrhunderts wie ein Fisch im Wasser. Wenn er sich den bürgerlichen’ Theorien der Ökonomie entgegenstellt, und wenn er in dieser Opposition eine radikale Wende der Geschichte entwirft, haben dieser Konflikt und dieser Entwurf als Bedingung ihrer Möglichkeit nicht die Wiederingriffnahme der ganzen Geschichte, sondern ein Ereignis, das von der ganzen Archäologie mit Präzision eingeordnet werden kann und das gleichzeitig auf die gleiche Weise die bürgerliche und die revolutionäre Ökonomie des neunzehnten Jahrhundert vorgeschrieben hat. Ihre Auseinandersetzungen werfen vergeblich einige Wogen auf und zeichnen an der Oberfläche einige Falten ab: Es sind lediglich Stürme im Wasserglas.“ (Die Ordnung der Dinge, 1966)

Foucaults kleine Stiche verkennen allerdings, dass die Stürme im Wasserglas das wichtigste Element Marx’schen Denkens verkörpern. Marx und Engels sind in ihren Texten dort am stärksten wo sie eine Gegenwart und ihre Geschichte vor Augen haben und die Effekte analysieren die ein lebendiger Prozess verursacht. Das „Kommunistische Manifest“ von 1848, das von allen wohlwollenden Leserinnen und Lesern als Gründungsdokument der kommunistischen Zukunftsperspektive betrachtet wird, beschäftigt sich kaum mit der sozialistischen Utopie. Das Manifest gründet eine Partei des politischen Aufstands gegen die Bourgeoisie, aber es erscheint mir heute gegen die Interpretationen des klassischen wie des postmodernen Marxismus so, dass die interessantesten Passagen im „Manifest“ mit dem Satz beginnen: „Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt.“ (MEW 4) Wer sich den Text genau ansieht wird rasch merken, dass der eigentliche Fokus nicht auf der Revolution einer sozialistischen oder kommunistischen Utopie liegt. Was sie im „Kommunistischen Manifest“ tatsächlich schreiben und was Marx später im „Kapital“ intellektuell auf eine neue Ebene bringen wird ist, dass die kapitalistische Globalisierung die eigentlich revolutionäre Kraft der Geschichte ist. Oder um Marx und Engels selbst zu zitieren: „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“ (MEW 4)

Warum man Stellen wie diese heute noch als antikapitalistische Zukunftsvision betrachten will, ist mir unverständlich. Marx, der große Theoretiker des Werts, der Arbeit, des Gelds und der Ware, verbrachte sein ganzes Leben lang damit die Strukturen seiner Wirklichkeit sichtbar zu machen und darum war der Gegenstand seines Denkens eben nicht die Utopie, sondern vielmehr die ihn umgebende aktuelle Realität. Höchst spekulativ und ungenau werden Marx und Engels immer dann, wenn sie aus den Analysen der Gegenwart auf eine mögliche Zukunft schließen wollen. In der „Deutschen Ideologie“ heißt es: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird].“ (MEW 3) Was Marx und Engels aber als „wahr“ und „wirklich“ in der „Deutschen Ideologie“ beschrieben – der Kommunismus als „wirkliche Bewegung“ – folgte einer teleologisch und messianisch aufgeladenen Hegel’schen Logik, die im Werden der „wirklichen Bewegung“ in jene Metaphysik zurück fiel, die sie zuvor noch als Überbleibsel des Ancien Régime bei den Jung und Althegelianern kritisiert hatten. Sie verließen damit die Radikalität der Gegenwart mit schwer wiegenden Konsequenzen. Es fällt schwer nach Althussers Kritik der Hegel’schen Teleologie im Werk von Marx die spekulative Flucht in den Messianismus noch für sinnvoll und nutzbringend zu halten. Vor allem angesichts der Tatsache, dass Althusser aus guten Gründen Kritik an Stalin in seinem Werk immer als philosophische Kritik an Hegel tarnte. Dort wo Marx und Engels von „Aufhebung“, „Umstülpung“ und „Überwindung“ sprechen, gehen sie wie Althusser gezeigt hat in die Falle teleologischer Feedbackschleifen und stellen den „ehernen Gesetzen der Geschichte“ wie Stalin das genannt hat einen Passierschein aus. Sie negieren dabei ihr eigenes revolutionäres Denken um utopischen Zwangsvorstellungen Platz zu machen. Der Wert des Denkens von Marx und Engels liegt jedoch für uns genau dort wo es mit großer intellektueller Macht das Hier und Jetzt als empirisch untersuchbare Gegenwart analysierte, in den Theorien über Arbeit, Wert, Mehrwert, Ware, Geld, Zins, Preis und Markt in den unübersichtlichen Textlandschaften des „Kapital“. Zu ihren großen intellektuellen Leistungen zählen die Beschreibung der kapitalistischen Transformationsenergie im „Kommunistischen Manifest“ und ihre zahlreichen, höchst originellen Kommentare zum politischen Zeitgeschehen, all die Briefe, Zeitungsartikeln, Essays, Beobachtungen, Glossen und Anmerkungen zu den politischen und ideologischen Ereignissen ihrer Zeit. Wenn Marx in der kurzen unveröffentlichten Schrift „Vom Selbstmord“ von 1846 über den Zusammenhang von weiblichen Suizid und den Klassenverhältnissen nachdenkt, ist sein Denken am originellsten und mächtigsten, gerade deswegen weil er tatsächlich die wirkliche Bewegung gegen das „Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]“ im Auge hat und nicht eine unklare utopische Phantasie.

Der Marxismus ist also keineswegs tot und es macht auch keinen Sinn ihm apokalyptische Floskeln vor die Füße zu werfen, weil das nur die bittere Wahrheit verdecken soll, die stattdessen vor uns sich ereignet: der Marxismus ist schlicht unbedeutend geworden, seine Transzendierung ins virtuelle Bewusstsein der globalen Welt hat ihn zu einem Geist werden lassen, der sich als banale antikapitalistische Verbalinjurie durch Facebookpostings und Twitterkämpfe zieht und Marx beinahe nur noch als Bild eines Mannes mit Bart erscheinen lassen. Mehr scheint heute nicht übrig geblieben zu sein. Die marxistischen Theorien, die sich nach wie vor auf Colleges und Universitäten in Europa, Südamerika und den USA in akademische Karrieren umsetzen lassen sind längst in einem postmodernen Supermarkt der Ideologien versunken. Weder kann man sagen, dass marxistische Philosophie in irgendeiner Weise das Denken mitbestimmt, wie sie das noch in den Jahren nach 1968 getan hat, noch dass marxistische Traditionen im Zeitalter von Political Correctness und Postmoderne einen nachhaltigen Fußabdruck hinterlassen konnten. Selbst Antonio Negri‘s und Michael Hardt’s „Empire“ hat die Krise des Marxismus eher verschärft als beruhigt. Ihre Referenz auf Melville’s Erzählung „Bartleby“, in der die Titel gebende Figur seinen Widerstand gegen das System dadurch auslebt, dass er alle Anfragen und Forderungen an ihn mit den Worten „Ich würde lieber nicht…“ zurück weist, treibt den Exzess an sein bitteres Ende: Bartleby verhungert. Der Widerstand, den Negri und Hardt offenbar noch denken können ist Flucht in die völlige Selbstaufgabe und innerhalb des Empire eine Übung in Sinnlosigkeit. Wer in solche Destruktivität seine utopischen Hoffnungen setzt, macht sich nur noch lächerlich.

Es ist jedoch deswegen keineswegs ausgeschlossen, dass es in Zukunft zu einer Renaissance des Marxismus kommen könnte. Es wäre meiner Meinung nach eine Theorie, die Marx und Engels als Analytiker kapitalistischer Vergesellschaftung nicht mehr in Begriffen der Utopie sondern als Instrument zur Erfassung einer unzeitgenössischen Gegenwart lesen würde. Man braucht keine Utopie um in die Zukunft blicken zu können. Marx lebte und schrieb in einer lebendigen Gegenwart, deren strukturelle Voraussetzungen er klar erkannte, aber die er in seinem utopischen Gestus in ihrer eigenen Zukunft stets verfehlte und wohl auch verfehlen musste. Der Marx des „Kapital“ war ein Wissenschaftler, der sich der Erforschung des gerade in seiner Blüte stehenden industriellen Kapitalismus des 19. Jahrhundert widmete, aber er schrieb kein Buch über seine revolutionäre Überwindung. Das Missverständnis, das Marx und Engels selbst nährten, dass mit der Entdeckung des „Kontinents der Geschichte“ (Althusser) und der Verortung des revolutionären Proletariats auch der Schlüssel dafür gefunden worden sein soll, den Kapitalismus revolutionär zu überwinden hat ein ganzes Jahrhundert lang politische Energien generiert, die in ihrer Tendenz unerhört destruktiv gewesen sind. Die Überzeugung, dass ein System namens „Kapitalismus“ kurz oder auch langfristig vor seinem Untergang stehen würde wird praktisch von allen Linken irgendwie geteilt und in diversen Theorieformationen unhinterfragt als gegeben voraus gesetzt. Wolfgang Fritz Haug hat in seinen „Vorlesungen zur Einführung ins Kapital“ einmal ganz nebenbei erwähnt, dass das Substantiv „Kapitalismus“ im „Kapital“ selbst niemals vorkommt. Marx spricht an manchen Stellen von „Kapitalisten“, aber hauptsächlich verwendet er die Modalform „kapitalistisch“, um die Prozesse von Arbeit, Wert, Mehrwert und Ausbeutung zu beschreiben. Während das Substantiv „Kapitalismus“ einen systematischen Zusammenhang voraussetzt, eine Art „Glocke über dem Gewimmel“ (Hegel) die durch eine andere Glocke ersetzt werden könnte, ist die Präferenz von Marx einen gesellschaftlich komplexen Prozess „kapitalistisch“ zu nennen viel näher an der Realität. Wo die Linken seit Lenin die Macht im Staate an sich nehmen, um die Gesellschaft mit einem neuen sozialistischen Dach zu versorgen, verfehlen sie vor allem die innere Dynamik kapitalistischer Transformation. Kapitalistische Umwandlung von Arbeit in Wert, Mehrwert und Ausbeutung ist kurz gesagt ein chemischer Prozess, kein mechanisch architektonischer. Die missverständliche Verwendung des Substantivs geht davon aus, dass Kapitalismus ein System ist, das man von oben wie eine architektonische Dachkonstruktion implementiert hat, während es in Wahrheit von unten wild wuchernd ungleichzeitig gewachsen ist. Es ist kein Zufall, dass Marx und Engels den Begriff der Arbeit als „Stoffwechsel mit der Natur“ definierten. Die Verwendung eines Begriffs der Chemie ist keine Metapher, sondern die richtige Wahrnehmung, dass mechanische und mechanistische Zugriffsversuche wirkungslos bleiben müssen, wenn die komplexen Wechselwirkungen zwischen Ware, Geld, Arbeit und Wert verstanden werden sollen. Der kapitalistische Prozess produziert eine mit hohem Energieaufwand betriebene Chemie von Menschen, die eine effiziente Umwandlung von Arbeit in Wert in Gang setzt und durch allgemeine Abstraktionen von Geld und Tausch vermittelt wird, die sich so den Mehrwert verschafft. Kapitalistische Transformation ist ein sich ständig neu etablierender Auflösungs- und Verschmelzungsprozess, der immer wieder neue Agenten, das können Menschen, Roboter oder sich ändernde Klassenverhältnisse sein, in die Umwandlung von Arbeit in Wert integriert. Es ist nicht bloß ein Prozess, sondern eine Organisation vieler unterschiedlicher Prozesse, die zwar nur zusammen funktionieren, aber unabhängig voneinander verstanden werden müssen. Kapitalistische Prozesse sind flexibel, darum können sie sich in Krisen besser anpassen und verändern. Sie wirken auf der Ebene des Individuums und zwingen Menschen dazu „ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“ (MEW 4) Es erscheint daher sinnvoll davon auszugehen, dass solche die vom „Kapitalismus“ reden zwar dasselbe meinen, aber nicht dasselbe verstehen. Diese völlig unbedeutende Kleinigkeit, die meiner hermeneutischen Pedanterie geschuldet ist, erklärt dennoch sehr nachvollziehbar warum der reale Sozialismus auf so dramatische Weise scheitern musste. Die Linken haben sich die kapitalistischen Verhältnisse immer als „Kapitalismus“ vorgestellt, als eine politische Herrschaftsform, die durch eine andere von oben herab ersetzt werden könnte. Aber es handelt sich nicht um eine politische Herrschaftsform, sondern um einen Prozess, der Beziehungen und Verkehrsformen erzeugt, die in netzartigen Strukturen integrative Territorialisierung betreiben. Es ist ebenfalls kein Zufall, dass Marx im „Kapital“ davon abriet die Untersuchung bei der kapitalistischen Verhältnisse mit der „Gesellschaft“ zu beginnen, sondern sich stattdessen mit der Ware beschäftigte, weil diese auf einer individuellen Ebene eine allgemeine Abstraktionsform darstellt, die eine Beziehung zwischen Menschen auf einem gemeinsamen Marktplatz ist.

Dass Marx und Engels, deren Gegenstand der technologisch noch unzulängliche Industriekapitalismus mit seinen harten Klassenkonflikten gewesen ist, weder die beiden Weltkriege noch den Aufstieg der europäisch/amerikanischen Technozivilisation vorhersehen konnten ist nicht ihre Schuld. Aber es ist den marxistischen Apologeten des nachfolgenden Jahrhunderts anzulasten, der Unfähigkeit der sozialistischen Länder gesellschaftliche Veränderung zu verarbeiten nur dadurch begegnen zu können, den Zusammenbruch der kapitalistischen Transformation stets nach hinten zu verschieben. Niemals jedoch kam ihnen in den Sinn, dass dieser Punkt gar nicht eintreten könnte. Marx berühmte Formel vom „tendenziellen Fall der Profitrate“, die irgendwann einmal die Überproduktion in sich implodieren lassen würde, nährte die marxistischen Hoffnungen und verdeckte ihre Baustellen. Die Idee, dass der Kapitalismus durch sein eigenes Zutun so brüchig und eine geschickte proletarische Organisation die Gunst der Stunde nützen würde, um die neue Gesellschaft und den neuen Menschen zu schaffen, treibt die linken Revolutionsfantasien bis heute an. Diese Vorstellungen haben wie wir sehen konnten vor allem den Effekt hervor gebracht, dass die Marxisten die eigentlichen wirkenden Kräfte der Geschichte falsch identifizierten. Nicht das Proletariat ist revolutionär, sondern die Bourgeoisie. Nicht die sozialistische Utopie treibt den Fortschritt an, sondern die kapitalistische Globalisierung. Es ist relativ gleichgültig ob man das gut oder schlecht findet, denn es lässt sich eigentlich nicht verhindern, dass Geschichte sich ereignet. Nochmals die „Deutsche Ideologie“: „Das Proletariat kann also nur weltgeschichtlich existieren, wie der Kommunismus, seine Aktion, nur als „weltgeschichtliche“ Existenz überhaupt vorhanden sein kann; weltgeschichtliche Existenz der Individuen; d.h. Existenz der Individuen, die unmittelbar mit der Weltgeschichte verknüpft ist.“ (MEW 3) Wir können diesen Satz erst heute wirklich verstehen. Die kapitalistische Globalisierung ist das eigentliche Subjekt der Geschichte, die wirkliche Bewegung wenn man so will. Ob und wann in ihrer Subjektwerdung der Weltgeist wirklich zu sich kommt, muss darüber entscheiden was von Marx und Engels letztlich übrig bleiben wird.

2.

Widmen wir uns also der Frage, ob Marx und Engels heute eher Anti-Imperialisten oder Anti-Deutsche wären. In einer ersten Annäherung kann man sagen, dass Anti-Imperialisten und Anti-Deutsche der feine Unterschied trennt, ob man „Kapitalismus“ sagt oder „kapitalistisch“. Anti-Imperialisten verstehen die globalisierte Welt als ein System von Glocken, Kuppeln und Dächern, das man in bestimmten Fällen auswechseln kann oder in anderen einfach zerstören muss, weil sich Veränderung nur als autoritäre staatliche Macht über die Individuen vorstellen lässt. Die Gesellschaft erscheint darin als Invariante, die von einem “System“ gelenkt wird und das Individuum als programmierbare Einheit am Display des Strippen ziehenden Weltsouveräns denkt. Die Richtung geht von oben nach unten und ist strikt deterministisch. Es reicht daran erinnert zu werden, dass die sowjetische Literatur von Stalin als ein Projekt betrachtet wurde in der die Autoren als „Ingenieure der Seele“ sich daran beteiligen sollten gemeinsam mit den Mitteln der Propaganda und des Terrors den „neuen Menschen“ zu erschaffen. Die Vorstellung, dass Gewalt androhendes social engineering ausreicht um die gewünschten Untertanen zu produzieren ist darum in erster Linie dem Umstand geschuldet, dass man von „Kapitalismus“ spricht, anstatt von „kapitalistisch“.

Die anti-deutsche Sicht der Dinge ist hingegen eine, die den kapitalistischen Prozess von unten sichtbar werden lässt. Die Bindung des Subjekts an den Fetisch Charakter der Ware denkt die Welt als ideologische Verschmelzung von Ware und Individuum, als chemische Verbindung eigenständiger Agenten mit dem Systemzwang. Die Dialektik der Aufklärung besteht genau darin, dass der Systemzwang keineswegs deterministisch, sondern auf der Ebene individueller Wahrnehmung nicht von persönlicher Willensbildung zu unterscheiden ist, obwohl oder auch gerade weil es sich als „Nicht-Identisches“ (Adorno) ausdrückt. Die prinzipielle Idee anti-deutscher Theorie ist es das Nicht-identische als Lebensform zu begreifen, mit der das Individuum vor seiner Selbstauslieferung an jedweden Systemzwang bewahrt werden kann. Der Begriff des Subjekts als solches muss sich gegen eine autoritäre Programmierung nach politisch arbiträr gerichteten Vektoren verteidigen. Im anti-deutschen Modus sind die Vektoren nach beiden Seiten gerichtet und seine Effekte nicht deterministisch. Sie sind modal, also Prozess orientiert, und immanent, die Prozesse in ihrer eigenen Logik analysierend, denn man ist vor allem an der Handlungsfähigkeit der Individuen wie sie die Kritische Psychologie versteht interessiert. Obwohl Anti-Deutsche gewöhnlich Althusser eher skeptisch gegenüberstehen, teilen sie doch seine Auffassung, dass wie Etienne Balibar einmal schrieb die herrschende Ideologie vor allem als Ideologie der Beherrschten verstanden werden muss.

Es gibt für beide Varianten Referenzen im Werk von Marx und Engels selbst. Beide waren stets hin und her gerissen zwischen einer rein technischen Machtausübung des Staates durch eine Partei und dem Bemühen dem rebellischen, widerstandsfähigen Intellekt trotzdem seinen Platz zu sichern. Aber man kann sich fürs erste fragen, was Marx und Engels eigentlich zu Anti-Imperialisten macht.

Der britische Literaturwissenschaftler Ian Almond hat in seinem Buch „History of Islam in German Thought: From Leibniz to Nietzsche“ aus dem Jahr 2009, das erst kürzlich auf Deutsch erschienen ist, acht Philosophen der deutschen Geistesgeschichte untersucht und welche Gedanken sie sich über den Islam machten. Neben den Essays zu Leibniz, Kant, Herder, Schlegel, Hegel, Goethe und Nietzsche findet sich auch ein Kapitel über Marx. Almond ist ein klassischer Linker der postkolonialen Theorie, der sich stark an Edward Saids Konzept des „Orientalismus“ orientiert, aber im Vorwort zur deutschen Ausgabe zugeben muss, dass die Erforschung der orientalistischen Ideen der von ihm untersuchten Philosophen eher die blinden Flecken bei Said offen legt. Marx ist in Almonds Darstellung vor allem ein wütender Gegner des europäischen Imperialismus, der sich intensiv mit der Geschichte des osmanischen Reiches beschäftigt hat, um mögliche revolutionäre Tendenzen in den islamischen Gesellschaften zu untersuchen. Es gehört zu den merkwürdigsten Ironien des Marx’schen Werkes, dass er vor allem das zaristische Russland und dessen imperialen Ausdehnungen nach Süden gegen den „kranken Mann am Bosporus“, wie das osmanische Reich zu imperialen Zeiten genannt wurde kritisierte. Russland war nach Marx unfähig zur Revolution, weil es als rückständige „halb-asiatische“ Kultur erst die Phase bourgeoiser Urbarmachung durchlaufen müsste. Hingegen erschien ihm zu Beginn seiner Beschäftigung mit dem osmanischen Reich die Möglichkeit, dass sich die weltgeschichtliche Existenz des Proletariats auch auf die Länder des Islam ausdehnen könnte durchaus vorstellbar. Was er Russland und dem zaristischen Regime um keinen Preis zugestehen wollte, schien ihm im Hoheitsgebiet des Islam hin und wieder durchaus möglich, etwa wenn er in den Dorfgemeinschaften des Orients ein Beispiel moderner Selbstverwaltung sah. Dass diese Hoffnung rasch wieder verflog lag laut Almond an Marx eigenen widersprüchlichen Impulsen, dass er einerseits den Widerstand der Araber, Perser und Türken gegen die kolonialen Ambitionen der europäischen Mächte unterstützte, aber andererseits aufgrund seines eigenen Modells davon ausging, dass die weniger entwickelten Regionen der Erde erst eine von außen bestimmte Transformation in kapitalistische Territorien durchmachen müssten. Die „nothwenige Aufloesung“ (MEW 28) der muslimischen Reiche würde diese ohnehin in den Einflussbereich der europäischen Zivilisation zwingen. Zwischen diesen beiden Polen hin und her gerissen äußerte Marx bloße Verachtung für die unterdrückten Christen des osmanischen Reiches, deren Unterstützer in der britischen Politik er verdächtige das Christentum als Vorwand für militärische Interventionen verwenden zu wollen. Seine Abneigung gegen das Christentum ließ ihn Argumente verwenden, die denen mancher Anti-Imperialisten von heute gleichen. Es lassen sich ganz ähnliche Widersprüche bei der Beurteilung der indischen Widerstände gegen die Kolonialherrschaft Englands finden. Einerseits sei die britische Inbesitznahme des Subkontinents die einzige soziale Revolution gewesen, die in Asien jemals stattgefunden habe, andererseits trat er lautstark als Befürworter der indischen Unabhängigkeit in Erscheinung. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass seine schnaubende Wut über die Ungerechtigkeiten der europäischen Gesellschaften und dem Klassendünkel seiner Eliten, auch verbergen sollte wie sehr die Unausweichlichkeit der kapitalistischen Globalisierung für ihn ein ernsthaftes praktisches und theoretisches Problem gewesen ist. Der Zwang seinen eigenen deterministischen Modellen zu folgen geriet in ständige Konflikte mit seinem wissenschaftlichen Anspruch nicht deterministische Systematiken zu entdecken. Die Anti-Deutschen heute, die Marx Anti-Imperialismus nicht mehr teilen, stehen stärker denn je vor dem Dilemma, dass auch eine Kritik kapitalistischer Verhältnisse nur dazu beitragen kann jene als allgemeine Abstraktion weltgeschichtlicher Existenz durch zu setzen. Dazu passt, dass Almond folgendes Zitat aus einem Brief an Engels 1853 zur Demonstration für den „Orientalismus“ von Marx verwendet, in dem Marx das Werk des französischen Gelehrten Bernier (1625 – 1688) bespricht: „Bernier findet mit Recht die Grundform für sämtliche Erscheinungen des Orients – er spricht von Türkei, Persien, Hindostan – darin, daß kein Privatgrundeigentum existiert.“ (MEW 28) Almond hält dies für einen Hinweis darauf, dass sich bei Marx orientalistische und anti-imperialistische Motive ständig vermischten und ordnet dies einem kulturalistischen Blickwinkel zu, aber dies erscheint höchst dubios. Genau hier verlässt Marx seine anti-imperialistische Ideenwelt und hält fest, dass das Fehlen von „Privatgrundeigentum“ vor allem das Fehlen von Institutionen und Rechtstitel bedeuten, die eine Gesellschaft erst dazu befähigen in die Moderne einzutreten. Marx durchaus kritischer Blick auf den Islam, den er als Religion für genauso verkommen hielt wie das Christentum wird bei Almond zu jener Invektive mit der der Diskurs der Saidisten jede Kritik am Islam für Ausdruck eines orientalistischen Rassismus hält. Es sieht also danach aus, dass sich jede/r für einen ganz bestimmten Marx entscheiden muss. Was Almond ganz im ideologischen Gewand des Said‘schen Orientalismus Begriffs als kulturalistisch betrachtet, ist bei genauerem Hinsehen etwas ganz Anderes: die Erkenntnis, dass es keine Alternative zum Aufbruch in eine weltgeschichtliche Existenz gibt. Im anti-postmodernen Modell von Marx und Engels sind die Phasen der Widerstände gegen den Imperialismus nur Durchgangs Etappen zur letztlichen Durchdringung der Gesellschaften durch die kapitalistische Globalisierung. In der „Deutschen Ideologie“ heißt es darum, „daß diese bürgerliche Gesellschaft der wahre Herd und Schauplatz aller Geschichte ist…“ (MEW 3). Die postkoloniale Theorie und ihre diversen Spielarten stoßen sich natürlich daran, dass selbst Marx sich nicht aus dem orientalistischen Schema befreien will, sondern darauf beharrt, dass Aufklärung eine conditio sine qua non für die positive Veränderung der Welt sein muss. Obwohl Marx selbst immer wieder widersprüchliche Ansichten zur Rolle des Islams vertrat und zwischen Sympathie und Ablehnung hin und her schwankte, erscheint es gerade heute wichtig festzuhalten, dass es als eine genuin marxistische Position zu gelten hat den Islam und seine alternativen Angebote Gesellschaft jenseits von Aufklärung zu organisieren strikt abzulehnen. In seinem Fragment gebliebenen Text aus dem Jahre 1894 „Zur Geschichte des Urchristentums“ schreibt Engels in einer Fußnote:

„Einen eigentümlichen Gegensatz hierzu bilden die religiösen Aufstände der muhammedanischen Welt, namentlich in Afrika. Der Islam ist eine auf Orientalen, speziell Araber zugeschnittene Religion, also einerseits auf handel- und gewerbetreibende Städter, andrerseits auf nomadisierende Beduinen. Darin liegt aber der Keim einer periodisch wiederkehrenden Kollision. Die Städter werden reich, üppig, lax in Beobachtung des „Gesetzes“. Die Beduinen, arm und aus Armut sittenstreng, schauen mit Neid und Gier auf diese Reichtümer und Genüsse. Dann tun sie sich zusammen unter einem Propheten, einem Mahdi, die Abgefallnen zu züchtigen, die Achtung vor dem Zeremonialgesetz und dem wahren Glauben wiederherzustellen und zum Lohn die Schätze der Abtrünnigen einzuheimsen. Nach hundert Jahren stehn sie natürlich genau da, wo jene Abtrünnigen standen: eine neue Glaubensreinigung ist nötig, ein neuer Mahdi steht auf, das Spiel geht von vorne an. So ist’s geschehn von den Eroberungszügen der afrikanischen Almoraviden und Almohaden nach Spanien bis zum letzten Mahdi von Chartum, der den Engländern so erfolgreich trotzte. So oder ähnlich verhielt es sich mit den Aufständen in Persien und andern muhammedanischen Ländern. Es sind alles religiös verkleidete Bewegungen, entspringend aus ökonomischen Ursachen; aber, auch wenn siegreich, lassen sie die alten ökonomischen Bedingungen unangerührt fortbestehen. Es bleibt also alles beim alten, und die Kollision wird periodisch. In den Volkserhebungen des christlichen Westens dagegen dient die religiöse Verkleidung nur als Fahne und Maske für Angriffe auf eine veraltende ökonomische Ordnung; diese wird schließlich gestürzt, eine neue kommt auf, die Welt kommt vorwärts.“ (MEW 22)

Ist das eine genuin marxistische Position? Die Antwort darauf kann nur „ja“ lauten. Marxistisch denken heißt, dass man die „wirkliche Bewegung“ als kapitalistische Globalisierung für alternativlos hält, weil nur sie garantiert, dass es eine „weltgeschichtliche Existenz“ gibt. Die tribalistischen Kollektivismen diverser Weltregionen sind keine Alternative zum Jetzt, sondern der Rückschritt in die Barbarei. Die Integration in den Weltmarkt ist die einzige verbliebene politische Methodologie mit der sich auf lange Sicht Verhältnisse herstellen lassen, die Betroffene als erträglich empfinden werden, auch wenn es der Weg dorthin keineswegs ist. Auf eine gewisse Weise haben Marx und Engels dies besser verstanden als irgendwer vor und nach ihnen. Es erscheint darum als eine natürliche Entwicklung, dass die anti-imperialistischen Interpreten von Marx die Linke zwar heute dominieren, aber eben deshalb auch so nachdrücklich dafür gesorgt haben, dass das Erbe von Marx und Engels irrelevant wurde. Ob es der anti-deutschen Theorie gelingen will, die Relevanz eines Marxismus der kapitalistischen Globalisierung zu erneuern hängt davon ab, ob sie die Lektionen des feinen Unterschieds zwischen „Kapitalismus“ und „kapitalistisch“ berücksichtigen wird. Und nicht zuletzt auch davon, ob es mit der Transformation der Erde zu einem globalen Markt überhaupt noch relevant sein wird über diese Unterscheidung nachzudenken. Es wäre gut möglich, dass sich Fukuyama, Kojève und Hegel danach als weitsichtige Denker eines Endes der Geschichte als brauchbarere Interpreten erweisen werden.

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